JUBILÄUMSBUCH DER FLEUROP AG

1900–1918 Eine neue Geschäftsidee

 

Das deutsche Kaiserreich unter Wilhelm II. war lange ein Erfolgsmodell. In den Chefetagen der Unternehmen und Banken war die Stimmung so glänzend wie seit der Gründerzeit der frühen 1870er Jahre nicht mehr. Zwischen 1895 und 1913 verdoppelte die Industrie ihre Produktion, und Deutschland kletterte in dieser Zeit hinter Großbritannien auf den zweiten Platz im Welthandel. Vor allem die beiden Branchengiganten Maschinenbau und Elektroindustrie expandierten, sie eroberten neue Märkte, und es entstanden Unternehmen bisher unbekannter Größe. Allein im Imperium Krupp arbeiteten 73000 Menschen, und bei den Brüdern Siemens in Berlin waren 57000 Arbeiter und Angestellte beschäftigt.

 

Die rasante Industrialisierung bedrohte das traditionelle Handwerk. Die Zahl der Kleinbetriebe mit bis zu fünf Beschäftigten sank um die Hälfte. Ganze Berufsgruppen wie die Sattler oder Schiffszimmerer verschwanden. Andere, wie die Schuster, wurden an den Rand gedrängt. Sie waren nur noch mit Reparaturen beschäftigt oder verdienten als Heimwerker einen kargen Lohn. Die Bäcker, Konditoren und Schlachter profitierten allerdings von der Entwicklung. Sie stillten die Grundbedürfnisse der Menschen in den wachsenden Städten. Zu dieser Gruppe von Gewerbeunternehmen zählten auch die Gärtnereien und Blumenläden, selbst wenn sie – wie das Lehrbuch Blumenbinderei von Willi Lange aus dem Jahr 1903 zugestand – zu den Luxusgeschäften gehörten und „gegenüber den notwendigen Bedürfnissen der Zeit am entbehrlichsten“ waren. Dennoch: Eine prosperierende und rasant zunehmende Gesellschaft maß sich mittlerweile eben auch daran, dass sie mehr als das Lebensnotwendige für einen immer größeren Teil der Bevölkerung produzieren konnte. Die Ansprüche der Menschen waren allerdings sehr verschieden. Während in den Arbeiterhaushalten ein sonntäglicher Braten und richtiges Schuhwerk für die Kinder schon einen enormen Fortschritt bedeuteten, zog es die Adeligen und Offiziere ins Theater und ins Opernhaus und demonstrierten die neureichen Händler, Kaufleute und Unternehmer mit immer anspruchsvolleren und teureren Statussymbolen ihre Zugehörigkeit zur herrschenden Klasse.

 

Mit dem Reichtum stieg das Verlangen nach gesellschaftlichem Einfluss und politischer Teilhabe und damit auch das Bedürfnis nach Repräsentation. Und Formen der Repräsentation waren unter anderem der für Feste und Feierlichkeiten schlichtweg notwendige Raumschmuck sowie auch die kostspieligen Gartenanlagen in den Vorstädten und Villengegenden von Berlin, Dresden oder München. In der Zahl war dieses Bürgertum eher klein, und an Bedeutung stand es noch immer hinter dem Adel und den Militärs zurück. Aber es wuchs, mehrte sein Vermögen und Ansehen belebte den Einzelhandel und begeisterte sich für die neuen Kaufhäuser. Es drängte darauf, in einem neuen, fortschrittlichen Deutschland unter der Führung des Kaisers eine größere Rolle zu spielen als bisher.

 

Auch für die Arbeiter und kleinen Angestellten besserten sich die Zeiten. Über 10 Millionen Männer und Frauen waren Anfang des 20. Jahrhunderts in den Fabriken des Landes beschäftigt. Neue Techniken und Rationalisierungen hatten die Produktionsprozesse zwar weiter verdichtet und der Alltag der Fabrikarbeiter und Handwerker war anstrengend wie eh und je, doch manche Indikatoren deuteten auf ein weniger zermürbendes und Kraft raubendes Leben hin. Die Arbeitszeit sank – auch dank starker Gewerkschaften und dem Kampf der Arbeiterparteien – von täglich zwölf Stunden zu Beginn des Kaiserreiches auf durchschnittlich zehn Stunden in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. „Die 48-Stunden-Woche rückte aus dem Reich der Utopie allmählich in den Horizont des Realisierbaren hinein“, wie Christian Graf von Krockow schreibt. In vielen Branchen konnte der freie Sonntag durchgesetzt werden, in einigen sogar der freie Samstagnachmittag, und erste Betriebe gewährten ihren Arbeitern, gestaffelt nach Betriebszugehörigkeit, zwischen fünf und zehn Tagen Urlaub – allerdings oft genug nur zum halben Lohn. Das war keine Idylle, aber es reichte für den Familienspaziergang am freien Tag, in Berlin für eine Fahrt hinaus ins neu eröffnete Strandbad Wannsee – und manchmal sogar zu einem kleinen Blumenstrauß.

 

Dieses wachsende Bedürfnis einer aufstrebenden Mittelschicht nach Komfort und Schönheit und die neuen bescheidenen Möglichkeiten des kleinen Mannes waren der Nährboden, auf dem die Blumenläden gediehen. Ihren Besitzern fehlte es nicht an gesundem Selbstbewusstsein. Noch einmal Willi Langes frühes Lehrbuch: „Die Blumenhandlung nimmt lebhaft teil an der Erzeugung und Bewegung von Werten und ist infolgedessen ein wichtiges Glied im Erwerbsgetriebe unserer Zeit.“

 

Dass der Berufszweig überhaupt entstehen konnte, hing auch mit der Verstädterung zusammen. Noch um 1800 lebten 80 Prozent der Deutschen auf dem Land; in den folgenden hundert Jahren fiel ihr Anteil auf rund 30 Prozent zurück. Die Zahl der Großstädte und ihrer Bewohner stieg und stieg. Kiel verdoppelte die Zahl der Einwohner zwischen 1900 und 1910 von 108000 auf 211000, die Einwohnerzahl Frankfurts stieg von 289000 auf 415000, und in Berlin explodierte sie binnen eines einzigen Jahrzehnts gar von 1,9 Millionen auf 3,7 Millionen. Zwei von drei Deutschen lebten jetzt im urbanen Raum – und sehnten sich nach einer Natur, die sie auf der Suche nach Arbeit gegen oft erbärmliche Unterkünfte eintauschen mussten. Für die Blumenhändler war das von Vorteil: Ihre Klientel wuchs und trug eine Sehnsucht in sich, zu deren Befriedigung sie mit ein wenig guter Ware und viel Geschick beitragen konnten.

 

Die Entwicklung zu mehr freier Zeit für den Einzelnen und damit einem Hauch von Behaglichkeit für alle Gesellschaftsschichten bestimmten auch die Veränderungen des öffentlichen Raums. Die wilhelminischen Jahre waren die Geburtsstunde vieler Parkanlagen – einem der wenigen Orte, an dem auch die kleinen Leute Erholung fanden. So wurden der große Treptower Park im Ostteil Berlins und der Viktoria-Park in Kreuzberg 1888 eingeweiht. 1904 kaufte die Stadt Charlottenburg ein weitläufiges Gelände, den späteren Jungfernheidepark, wo mit der Kolonie „Gartenfeld Jungfernheide“ gleichzeitig die erste Arbeitergärten-Anlage entstehen sollte. Im selben Jahr eröffnete der Botanische Garten. Das sind nur wenige Beispiele für eine Entwicklung zu einer grüneren Stadt, wie sie sich in allen Großstädten Deutschlands in raschem Tempo vollzog.

 

Eine andere Idee dieser Zeit war der Schrebergarten. Der erste entstand Mitte des 19. Jahrhunderts in Leipzig auf Initiative des Arztes Dr. Daniel Schreber. Um den Folgen der Industrialisierung entgegenzuwirken, forderte Schreber die Schaffung von Grünflächen mit Spielplätzen. Zu seinem Konzept gehörten auch Gärtchen, in denen Kinder Blumen und Pflanzen kennen lernen konnten. Diese zeigten sich jedoch wenig interessiert an Rosen und Ranunkeln. So griffen ihre Eltern zu Hacke und Spaten, und aus den Kinderbeeten am Rand der Spielwiese wurden Familienbeete, die schnell privatisiert, dann parzelliert, schließlich umzäunt wurden und fortan Schrebergärten hießen. Das Beispiel machte Schule, und in vielen Städten entstanden Gartenkolonien nach dem Leipziger Vorbild. In der Gründerzeit der 1870er Jahre mit ihrer großen Wohnungsnot bauten außerdem viele Pächter ohne Genehmigung ein hölzernes Domizil auf ihre Parzellen, in das sie mitsamt Familie einzogen. Oft ignorierte die Stadtverwaltung dieses Treiben, und so eroberten die „Laubenpieper“ den städtischen Raum und verwandelten abgelegene Brachen und unbebaute Areale in grüne Refugien.

 

Die Wohnungsnot in den zentralen Vierteln Berlins trieb die Bodenpreise hoch. In Kreuzberg, im Wedding und auf dem Prenzlauer Berg entstanden die typischen Wohnkomplexe mit zwei, drei, manchmal vier Hinterhöfen. Da war kein Platz mehr für die großflächigen Gartenbetriebe, die noch Mitte des 19. Jahrhunderts im Zentrum der Stadt Sträuße, Topfblumen und Kränze verkauft hatten. Jetzt wurden diese Betriebe immer weiter an den Rand gedrängt: in die spätere Gärtnerstraße nach Steglitz, in die Tempelhofer Blumenstraße oder in die Feldmark vor dem Schlesischen Tor. Auch zu dieser Entwicklung nahm das schon erwähnte Lehrbuch Stellung: „Die Gärtnerei, aus dem Weichbild der Stadt verdrängt, gewinnt einem Boden Renten ab, welche für die Landwirtschaft einerseits schon zu teuer wurde, andererseits der Bebauung noch nicht zugänglich ist. In jeder Stadt sind die Gärtner die Pioniere der Baumeister und finden meistens ihre Rechnung dabei.“ Das Beispiel Tempelhof belegt diese These. Die von Friedrich II. Ende des 18. Jahrhunderts als Exerzierfeld genutzte Vorstadt hatte zur Zeit des großen Preußenkönigs weniger als 200 Einwohner. Im Jahr 1900, als zahlreiche Gärtnereien in Tempelhof die Blumenläden der Hauptstadt versorgten, waren es knapp 10000. Und noch einmal zwanzig Jahre später waren viele dieser Gärtnereien wieder verschwunden, und Tempelhof zählte 60000 Einwohner. Filmstudios wie die Ufa hatten sich angesiedelt, Ullstein baute hier das größte Druckhaus Europas, und der neue moderne Flughafen Tempelhof ersetzte das Flugfeld, auf dem Graf Zeppelin und die Gebrüder Wright gelandet waren und die Berliner „bei Pilzschwemme“ Champignons gesucht hatten.

 

Die Gärtnereien im noch nicht zersiedelten Gürtel um die ausufernde Metropole belieferten die Blumenläden im Zentrum. 1907 wies das Statistische Jahrbuch von Berlin 173 Gärtnereien mit insgesamt 1.579 Beschäftigten aus. Die Trennung von reiner Zucht und dem Verkauf von Blumen in speziellen Läden war recht neu. Manche Gärtnerei, die an die Peripherie gedrängt worden war, betrieb in der Stadt ein Blumengeschäft als Verkaufsstelle für das urbane Publikum. Andere Läden lösten ihr Verkaufsgeschäft von vornherein von einer bestimmten Gärtnerei. Sie sahen in dem Gewerbe Zulieferer, von denen sie ihre Ware bezogen. So waren längst nicht mehr alle Blumenläden Außenstellen von Gärtnereien. In einem Rundschreiben Magdeburger Blumengeschäftsinhaber heißt es 1903 zu dieser Entwicklung: „Am Anfang im innigsten Zusammenhang mit der Gärtnerei, waren die Blumenhändler meist selbst Besitzer von Gärtnereien. Durch die rasch sich vollziehende Ausbildung der Bindekunst, durch die erhöhten Ansprüche, welche Publikum und scharfe Konkurrenz an die Blumenhändler stellten, ergab es sich fast von selbst, dass beide Geschäftsteile sich trennten und dass wir heute in allen größeren Städten die Blumenhändler einerseits nur als solche auftreten sehen, frei vom Ballast einer Gärtnerei, während die Gärtner andererseits sich immer mehr der Produktion zuwenden mussten, um ihre Kräfte nicht zu zersplittern. Natürlicherweise blieben beide auf einander angewiesen!“

 

Der volkswirtschaftliche Nutzen dieser Läden war gewichtig, was ein anderer Rundbrief vorrechnete: „Die Blumenhandlung beschäftigt gut bezahlte Arbeitskräfte, zahlt gute Mietpreise und hilft dadurch die Bodenrente städtischer Grundstücke tragen; sie ist Abnehmerin zum Teil für sie arbeitender Industrien (Korbwaren, Papier, Band, Stanniol, Draht). Die deutsche Post und Bahn und dadurch der stets geldbedürftige Staat können wohl auf die Einnahmen aus dem Versand von Blumen nicht verzichten. Und der Briefverkehr der Blumenhandlungen, ihr Anteil an Telegraph und Telephon, nimmt immer noch zu.“ Es gab 1907 erstaunliche 1.325 Blumen- und Samenhandlungen in Berlin, die meisten waren allerdings eher kleine Kioske als große Geschäfte. Alle zusammen beschäftigten rund 2.560 Menschen.

 

Die Lebensfähigkeit dieser Geschäfte entschied sich sehr rasch, etwa nach einem Jahr. Wenn es dann nicht gelungen war, eine Stammkundschaft zu binden oder auf den geschäftigen Flaniermeilen wie der Berliner Friedrichstraße Laufkundschaft zu gewinnen, gab es für den Experten wenig Sinn weiterzumachen. „Wenn nicht besondere, günstige Umstände eintreten, z.B. die Verbesserung des Verkehrs, Errichtung einer Garnison, Eröffnung eines Theaters, so ist auf eine bessere Zukunft, womit sich viele trösten, nicht zu rechnen. Man möge dann das Geschäft verkaufen, vielleicht gelingt es einem anderen besser“, schreibt Lange.

 

Es war eine gute Zeit für Blumengeschäfte, denn Blumen hatten ihren Platz im städtischen Alltag erobert. Sonnenblumen wurden zum unverzichtbaren äußerlichen Kennzeichen eines Dandys. Blumendekoration gewann in Restaurants, Cafés, Varietés und Theatern an Bedeutung als Teil einer visuellen Kultur. So genannte Floragärten kamen in Mode, es waren prachtvolle geschmückte Parks mit Wintergärten voller Blumen. Elegante Herren schenkten ihren Damen selbstverständlich kleine Bouquets, und auch die Hutmode verlangte nach floralem Schmuck. Ein Autor schreibt dazu in der Fachzeitschrift Bindekunst: „Im Allgemeinen kann man sagen, dass der Berliner Bevölkerung in ihrer großen Masse ein tiefes Gefühl für Blumen und Blumenschmuck innewohnt. Ja ich wage zu behaupten, dass ich trotz aufmerksamer Beobachtung ein ähnlich tiefes Gefühl in anderen Städten nicht finden konnte. Man stelle sich nur mal sonntags nachmittags auf einen Verkehrspunkt und man wird staunen, wie viel der Vorübergehenden Sträuße, Töpfe und Blumenschmuck im Arm tragen, um damit bei ihren Besuchen in Familien- und Freundeskreisen zu erfreuen“.

 

Selbst die politischen Parteien nutzten die positive Bedeutung von Blumen. So galt die rote Rose als Symbol der revolutionären Arbeiterbewegung. Beim ersten europaweiten Aufmarsch der Sozialisten am 1. Mai 1890 verboten die Behörden fast überall das Mitführen der roten Fahnen. Als Zeichen der Solidarität und als Bekenntnis zum Sozialismus verteilten die Genossen daraufhin in London, Paris und den anderen Zentren des Arbeiterkampfes rote Nelken – sie waren einfach billiger als Rosen.

 

Die neuen Blumenläden und -kioske hatten es trotz wachsender Kundschaft nicht immer leicht. Echte Konkurrenz entstand ihnen durch die Straßenhändler. Allein in Berlin gab es beinahe 30000 dieser fliegenden Händler, und mehr als tausend von ihnen boten Blumen an, standen mit einem Zinkeimer auf dem Kurfürstendamm und in der Friedrichstraße, an den Aufgängen der großen U-Bahn-Stationen am Wittenbergplatz oder am Alex und hofften auf Kundschaft. Oft boten sie nicht mehr als ein paar Primeln oder Astern an, die sie auf ihrer Parzelle gezogen hatten, oder sie verkauften Feldblumen, die sie vor den Toren der Stadt gepflückt hatten. Anders als die Straßenhändler kämpften die Blumenladenbesitzer der Innenstadt mit hohen Mieten und Verlusten durch verdorbene Ware. Beide Posten machten zusammen etwa 20 Prozent des Umsatzes aus. Da durfte nichts Unvorhergesehenes geschehen, denn der Gewinn vor Steuern betrug oft nicht mehr als ein Zehntel der Einnahmen.

 

Dieser tägliche Kampf war die Kehrseite der Industrialisierung und Urbanisierung. Die meisten Berliner lebten in rasch hochgezogenen Häusern, für die der Begriff „Mietskaserne“ erfunden worden war. Die größte von ihnen stand im Wedding. Der gewaltige Komplex hatte sechs hintereinander liegende Höfe mit zwei Seitentrakten zu je fünfzig Kleinwohnungen mit einer Stube und dazugehöriger Küche. In dem Moloch von Haus mit Toilette auf der halben Treppe lebten über 2000 Menschen. In diesen Wohnungen standen nur selten Blumensträuße – es sei denn, dass am Wochenende die Familie für 10 Pfennige mit der Tram aufs Land fuhr und am Straßenrand einen bunten Strauß Wiesenblumen sammelte. Die Baugesellschaften waren froh, wenn gerade ein Blumengeschäft, „das immer für das Haus einen guten Eindruck machte“, zu den Mietern zählte.

 

Ein Kennzeichen der Epoche war die Spezialisierung. Der Schneider, der seinem Kunden einen Anzug nach Maß fertigte, arbeitete nur noch für eine winzige Schicht reicher Großstädter. Die meisten seiner Kollegen dagegen schnitten reihenweise Ärmel, setzten Abnäher oder saßen an der Nähmaschine und fertigten Stücke im Akkord. Nicht anders war es in den Werkstätten der Autoindustrie, wo ein Mann die Tür einbaute, ein anderer den Kotflügel, der dritte den Vergaser einstellte. Diese Spezialisierung machte auch vor dem Blumengewerbe nicht halt. So verkauften manche Geschäfte nur „lebende Blumen und Blumenzusammenstellungen“, andere in Friedhofsnähe spezialisierten sich auf Kränze und Trauerspenden, dritte boten neben frischen Schnittblumen auch Topfpflanzen an.

 

Diese Läden waren „nur dort lebensfähig, wo wohlhabende Bewohner über die notwendigen Lebensbedürfnisse hinaus sich und anderen Annehmlichkeiten bereiten können.“ Sie lagen entweder an einer Haupt- und Verkehrsstraße, wo wegen der Fremden, der Hotels, der Theater und Behörden „ein höherer Absatz wahrscheinlich ist“, die Rückschläge durch „stille Jahreszeiten, Sommermonate, Landestrauer“ aber gerade „am meisten fühlbar“ waren. Oder aber sie lagen in den Nebenstraßen und Villenvierteln, wo die Händler die Wünsche der Kunden kannten, Stammkundschaft also die zentrale Rolle spielte, und die Verluste in stillen Zeiten nicht ganz so hoch waren.

 

Wie in vielen Branchen tauschten sich auch die Blumenhändler untereinander aus. Sie diskutierten über zuverlässige und preiswerte Gärtnereien oder über die Löhne für „selbständig künstlerisch und rasch arbeitende Blumenbinder“ (wobei die Frauen etwa 100 Reichsmark verdienten, die Männer oft das doppelte, allerdings nur „in den großen Städten in vornehmen Geschäftslagen“). Man redete über neue Moden und Werbeauftritte, dachte über einen gemeinsamen Einkauf nach und erschloss sich neue Zulieferquellen für Verpackungsmaterialien. Bereits 1878 gründeten Berliner Händler den ersten Verein der Blumengeschäftsinhaber. Auch in Großstädten wie Magdeburg und Dresden organisierten ansässige Händler solche Zusammenschlüsse.

 

Die dramatische Umgestaltung der Volkswirtschaft Ende des 19. Jahrhunderts führte zu immer neuen kommerziellen Verbindungen: Kartelle, Konzerne, Trusts, Gesellschaften, Syndikate. Dem wollte der Mittelstand in Handwerk, Handel, Gewerbe und Landwirtschaft nicht nachstehen. Er drängte über örtliche Vereine hinaus in eigene Verbände, um wie früher in den Zünften gemeinsame Angelegenheiten zu beraten und zu regeln. Wie groß dieser Wunsch auch bei den Blumenbindern war, zeigt ein Rundschreiben des Blumenhändler-Vereins Magdeburg aus dem Jahr 1903. Unter anderem stellte man fest, dass die Interessen der Gärtner sich nicht überall mit den Interessen der Blumenhändler deckten. Hierdurch ergab sich die Notwendigkeit einer Berufsorganisation von selbst, zumal erhöhte Ansprüche der Kunden die Anforderungen an die Bindekunst steigerten.

 

Die „Internationale Kunstausstellung und Große Gartenbauausstellung“ 1904 in Düsseldorf gab die Kulisse für die Gründungsversammlung ab. Die Schau fand deutschlandweit Beachtung. Besonders die Anlage, die den Garten als Bestandteil einer neuen städtischen Wohnkultur propagierte, erhielt regen Zulauf. Am 18. September des Jahres kamen in der Aula der Kunstakademie etwa 300 Händler zusammen. 88 Blumengeschäftsinhaber aus allen Teilen des Reiches wurden sofort Mitglied im Verband Deutscher Blumengeschäftsinhaber (V.D.B.). Zum Vorsitzenden wählten sie den Blumenhändler Max Hübner aus Berlin. Vier Jahre später sollte er seine Idee einer etwas umständlich betitelten „Blumenspenden-Vermittlungs-Vereinigung“ in die Tat umsetzen – Vorläuferin der heutigen Fleurop AG.

 

Hübner war das, was man heute einen Lobbyisten nennt: Er kümmerte sich um die Zugehörigkeit zur Berufsgenossenschaft, um Ausstellungen zur Popularisierung der Blumenbindekunst, um die Werbung neuer Mitglieder für den jungen Verband und die Einfuhr von Schnittblumen in den Wintermonaten. Außerdem engagierte er sich sehr für eine einheitliche Lehrlingsausbildung. Der vom Verband entwickelte Ausbildungsplan fand zwar Zustimmung von staatlicher Seite, aber der Krieg brachte die Pläne ins Stocken. Erst nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches sollten die „überwiegend jungen Mädchen, die zur Blumenbinderei drängten, (weil) gerade der Umgang mit Blumen ein gefühlsmäßiges Erfassen fordert und die Frau tiefer in das Wesen der Blumen eindringt“, nach einer einjährigen Lehrzeit ihre Prüfung zum Blumenbindergehilfen ablegen.

Der neue Verband entwickelte sich dynamisch. Am 11. Oktober trat der Verein der Blumengeschäftsinhaber Berlin geschlossen dem V.D.B. bei. Auch andere Ortsvereine schlossen sich dem V.D.B. an, so dass er 1905 bereits 679 Mitglieder zählte. Eine erste Blumenbindekunst-Ausstellung fand mit sehr großer öffentlicher Resonanz 1907 in Berlin statt. Auch als Interessenvertretung war der Verband erfolgreich. Nach zähen Verhandlungen wurde erreicht, dass Blumengeschäfte ihr Schaufenster an Sonntagen nicht mehr verhängen mussten. Und 1909 befragte der Berliner Magistrat auf Drängen des Verbandes über 600 Blumenhändler zur Sonntagsöffnung. Nur sieben von ihnen wollten auf einen Sonntagsverkauf verzichten, mehr als hundert waren bereit, ihn einzuschränken, der große Rest wollte gleich bleibende oder sogar ausgeweitete Öffnungszeiten. Hübner verschaffte diesem Willen auf politischer Ebene Gehör und Gewicht.

 

Sein eigenes Geschäft befand sich in der Berliner Prinzenstraße, einer belebten Straße in Kreuzberg. Heute zieht hier ein beliebtes Sommerbad Tausende von Besuchern an. Nur ein paar Schritte entfernt fahren Ausflugsschiffe durch den Landwehrkanal, an dessen Ufern Restaurantschiffe vertäut sind und hinter dichtem Baumbewuchs schöne Gründerzeitvillen stehen. Diese Gegend am Kanal war eine kleine bürgerliche Oase inmitten eines Arbeiterviertels. Nur wenige Schritte entfernt lag schon damals die U-Bahn-Station Prinzenstraße, und das nahe Gaswerk in der Gitschiner Straße belieferte die Stadt mit Energie für die Straßenbeleuchtung und die Haushalte. Der umtriebige Hübner war schon vor seiner Zeit als Verbandsvorsitzender ein viel beschäftigter Mann, der nicht nur Blumen im eigenen Laden verkaufte. Er importierte Ware von der Riviera in seine Heimatstadt und exportierte Blumen bis nach Sankt Petersburg, wo er in den besten Kreisen der zaristischen Gesellschaft zahlungskräftige Abnehmer fand.

 

Hübner war im Dezember 1866 im vierten Stock des Hauses geboren worden, in dessen Erdgeschoss seine Eltern einen Laden betrieben. Diesen übernahm er 1901. „Zunächst widmete er sich“, wie sein Enkel Alfons Hübner in der Familienchronik schreibt, „ganz dem Ausbau des Blumengeschäftes in der Prinzenstraße. Aber für seine Unrast war ihm das zu wenig. Er wollte nicht länger hinter dem Ladentisch stehen und den Kunden hübsche Blumen anbieten. Vorwärtsblickend strebte er, den Berufsstand der Blumenbinder zu Ansehen und Einfluss zu bringen. Anfänglich nannten die Berliner sie – schnoddrig und unschön – ‚Gärtner-Knollen’, was wohl daher rührte, dass es zunächst nur wenige Blumengeschäfte gab und deshalb die Blumen aus den umliegenden Gärtnereien beschafft werden mussten.“

 

Wir wissen nicht, wie Hübners Laden ausgesehen hat, denn es gibt weder Foto noch Beschreibung. Stattdessen finden sich in dem schon zitierten Handbuch der Blumenbinderei zahlreiche Hinweise, wie ein Blumenladen damals aussehen sollte, und es ist sehr wahrscheinlich, dass Hübner, dem Zeitgeist entsprechend, diverse dieser Elemente in sein Geschäft integriert haben dürfte. Nach Meinung des Autors sollte ein Laden folgendermaßen ausgestattet sein: „Kleine Tische, Stühle im jeweiligen Salonstil, nicht poliert, sondern lackiert (um leicht erneuert werden zu können.) Schwarzes Holz wirkt zierlich, Polsterung flach in einheitlichen Farben. Tische mit Marmorplatten sind angenehm. Die Möbel können auch veranda- oder gartenmäßig sein (Rohrgeflecht oder Bambus), doch sollen sie in milder Naturfarbe gehalten sein.“ Der Autor riet zu Spiegeln, weil sie, geschickt platziert, die Blütenpracht vermehren halfen. Außerdem hielt er ein „Schreibpult, dazu eine Schreibeinrichtung nur für die Käufer, mit Adressbuch, Telephonverzeichnis, stets brauchbarer Feder, Briefpapier und Briefmarken“ für unabdingbar. Für die Präsentation der Pflanzen empfahl er in der Höhe verstellbare Tafeln, die auf Böcken ruhen und zu „treppenartigen Gestellen“ arrangiert werden sollten, als Wandfarbe hielt er Weiß oder aber ein „mildgetrübtes Rot“ für die beste Wahl. Als Heizung sollte eher ein Berliner Kachelofen als eine Zentralheizung dienen, denn die verteuere den Mietpreis „nicht im rechten Verhältnis zur Benutzung“. Zur Beleuchtung empfahl er ein „mit Rücksicht auf unser gesteigertes Lichtbedürfnis“ elektrisches Glühlicht. Wem das zu teuer sei, mochte aber auch auf „vorzügliche Petroleumlampen mit bestem Brennstoff“ zurückgreifen. Besondere Aufmerksamkeit gehörte dem Schaufenster. Hier riet er zu „schwarzem Sammet“ auf den Tafeln und einer Stellwand für die Dekorationen. Wichtig war ihm die einheitliche Gesamtwirkung der Präsentation: „Man zeigt entweder nur Kränze oder eine hervorragend schöne, größere Zusammenstellung heiteren Zwecks oder nur kleine Handsträuße.“ Und dann unterstrich er: „Eine reichhaltige Auslage ist die vornehmste, sicherste und im Vergleich zum Erfolg die billigste Reklame.“ Strikt wandte er sich gegen die Mode des in Glas eingelassenen Besitzernamens, weil er „die einheitliche Wirkung des Blumen- und Pflanzenaufbaus“ störe. Auch zeigte er wenig Verständnis für unnötige „Anbringungen“ und wies darauf hin, dass der Geschäftsinhaber gut auskommen könne „ohne Fremdworte wie Dekoration, Bouquets oder Arrangement.“ Außerdem lehnte der Autor des Handbuches Preisauszeichnungen ab, zum einen, weil sie „den künstlerischen Gesamteindruck stören und Blumengaben ihres idealen, poetischen Werts“ berauben, zum anderen, weil es für den Geber unschön sei, wenn der Empfänger sich den Preis des Präsentes errechnen könne.

 

Hübner mag einige dieser Vorschläge berücksichtigt haben, aber es ist ebenso sicher, dass er andere in den Wind geschlagen haben wird, denn er war ein eigener Kopf. Das bewies er mit der Gründung seiner Blumenspenden-Vermittlungs-Vereinigung. Dass er sich überhaupt an dieses neue Vorhaben wagte, hing vielleicht auch mit einer spezifischen Atmosphäre zusammen, denn in Berlin konnte man von allem leben, was man wirklich konnte. Ein geflügeltes Wort sagte, dass, wenn einer in Berlin von der Gedächtniskirche bis Halensee auf seinen zwei Händen spazieren gehe, er sofort einen fände, der wisse, wie man dieses Talent zu Geld machen könne. So kann man vielleicht sagen: Hübner hatte das Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, in einer aufstrebenden Stadt, die für alles Neue und Moderne aufgeschlossener war als jede andere im Kaiserreich.

 

Bei seiner Geschäftsidee kamen ihm die als Vorsitzender des V.D.B. geknüpften Kontakte zugute. Ein Beispiel war sein Kollege Damerius, dessen Geschäft im Jahr 2006 sein hundertjähriges Jubiläum feierte. Der erste Laden des Blumenbinders lag in der Müllerstraße, wo die Firma heute noch Werkräume, Arbeitsräume und Lager unterhält. Der Großvater des heutigen Betreibers, Winfried Damerius, bekam 1912 ein Zertifikat von Max Hübner überreicht. Die späteren Mitglieder der Fleurop kamen also auch vorher schon in irgendeiner Form zusammen, die meisten von ihnen über den V.D.B.

 

98 Geschäftsinhaber schlossen sich der neuen Blumenspenden-Vermittlungs-Vereinigung an, die in den Räumen des Verbandes Deutscher Blumengeschäftsinhaber die Arbeit aufnahm. Die mit Schreibmaschine getippte erste Mitgliederliste ist leider im Zweiten Weltkrieg – wie so viele andere Unterlagen auch – verloren gegangen.

 

Die Idee Hübners war so einfach wie überzeugend: Bisher war es üblich, dass ein Kunde ein Blumengeschenk in einem Geschäft persönlich aussuchte und das Geschäft diese Blumen verschickte. Sie wurden feucht in Papier eingewickelt, in einen Karton gepackt und dann per Post expediert. Die Reise konnte einige Tage dauern, und selbst die unempfindlichsten Blumen ließen unterwegs irgendwann die Köpfe hängen. Hübner hatte nun die Idee, den Auftrag per Vermittlung abzuwickeln. Statt die Blumen zu verschicken, schrieb er dem Kollegen am Zustellort eine Nachricht. Der überbrachte den gewünschten Strauß dann persönlich oder per Boten. Bezahlt wurde mit einem dem Auftrag beigefügten Verrechnungsscheck. Um das Verfahren weiter zu beschleunigen, arbeitete Hübner einen Telegrammschlüssel aus, für den er abgekürzte lateinische Worte verwendete. Dieser Code wurde über Jahrzehnte für die Vermittlung genutzt. Hübners Idee verband mehrere Vorteile miteinander: Ein Blumenhändler konnte durch eine Provision an einem Auftrag verdienen, den er unter normalen Umständen nie erhalten hätte. Er konnte seinen Umsatz erhöhen, weil er sich ein neues Geschäftsfeld eröffnete. Und ihm wurden sogar Aufträge von Konkurrenten zugetragen.

 

Dennoch empfanden viele Kollegen das Unternehmen als gewagt. Einen regelrechten Abrechnungsbetrieb wagte sich auch der Pionier nicht vorzustellen – „und man brauchte ihn ja auch nicht bei einer Handvoll interessierter Kollegen, die selten genug Gelegenheit hatten den ‚besonderen und rein zufälligen Wunsch’ eines Kunden zu befriedigen“, wie es in den Fleurop-Nachrichten 1958 in Erinnerung an den 50. Gründungstag heißt. Auch der etwas umständliche Name des Verbandes war eigentlich ein Hindernis: „Wer von den Kunden dachte beim Blumen schenken denn schon an das merkwürdige Wort ‚Blumenspenden-Vermittlung’? Wollte man einem Bekannten seinen Glückwunsch aussprechen, so tat man das eben per Brief, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, dass die sorgfältig in einem Postpaket verpackten Blumen den Empfänger in halb verwelktem Zustand erreichten.“ Es gibt heute keine Unterlagen mehr über diese Gründungszeit, aber man kann sich leicht vorstellen, wie viel zähe Kleinarbeit nötig war, um den Kreis der Mitglieder zu vergrößern.

 

Die Gründung der Vereinigung am 17. September 1908 war ein brancheninternes Ereignis, das keine Zeitung vermerkte. Im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses in Berlin stand an diesem Tag die Probefahrt der neuen U-Bahn vom Leipziger Platz zum Spittelmarkt, und die Berliner Morgenpost berichtete ausführlich über den Streit unter den Parteien, ob der englische König Edward nun am Brandenburger Tor oder im Rathaus empfangen werden sollte. Max Hübner wird das wohl nicht anders erwartet haben in einer Stadt, die jeden Tag hunderte von Geschäftsideen hervorbrachte – von denen dann nur wenige der harten Wirklichkeit standhielten.

 

Die neue Vereinigung aber wurde ein Erfolg. Dazu beigetragen hatte auch die Verbreitung des Telefons, das Deutschland in rasendem Tempo eroberte. Mit Hilfe der Telekommunikation war es nun noch schneller möglich, Blumenaufträge zwischen zwei Händlern abzuwickeln. 1881 war in der Hauptstadt das erste öffentliche Fernsprechamt mit acht Teilnehmern versuchsweise in Betrieb genommen worden. Weitere Vermittlungsstellen in Hamburg, Frankfurt am Main, Köln und Mannheim folgten. 1888 waren schon 10000 Teilnehmer ans Netz angeschlossen, ein Jahr nach Gründung von Hübners Vereinigung gab es in Deutschland 941000 Fernsprecher, mehr als ein Zehntel davon in Berlin.

 

Im Jahr vor der Gründung der Blumenvermittlung begann auf einem anderen Kontinent eine Entwicklung, die später einmal große Bedeutung für die Blumenvermittlung haben sollte. Den Zusammenhang zwischen einer trauernden Tochter im ländlichen Mittelwesten Amerikas und der Idee eines Berliner Blumenhändlers konnte damals niemand auch nur erahnen. Die Geschichte begann mit der Amerikanerin Anna Jarvis, die am 9. Mai 1907 vor einer Kirche weiße Nelken an Mütter verteilte. Es war eine Geste der Trauer. Nach dem Tod ihrer geliebten Mutter wollte Anna Jarvis der engagierten Frau gedenken, die sie nicht nur umsorgt und liebevoll großgezogen hatte, sondern auch Vorsitzende der Mothers Day Work Clubs war. Der Verein brachte unter anderem armen Frauen die wichtigsten Regeln der Seuchenvorsorge bei. Anna Jarvis’ Aktion machte Schule, und 1914 proklamierte Präsident Woodrow Wilson den nationalen Muttertag. Im ganzen Land wurden Blumen verschenkt – auch über große Entfernungen hinweg,

Bereits 1910 hatten amerikanische Blumenhändler in Detroit Max Hübners Idee einer Blumenvermittlung aufgegriffen und – wie im Geburtsland des Marketings nicht anders zu erwarten – sie ins Große übertragen: Die Florists' Telegraph Delivery Association entstand. Ihr erster Vorsitzender, Albert Pochelon, war gebürtiger Deutscher. Er wollte die alte Heimat so schnell wie möglich in seine internationale Organisation integrieren. Es wäre ein wichtiger Schritt gewesen: Die Mitgliederliste der deutschen Blumenspenden-Vermittlungs-Vereinigung verzeichnete 1913 bereits 350 Geschäfte.

 

Aber dann begann der Erste Weltkrieg. Am Samstag, den 1. August 1914 mag Hübner wie viele andere Berliner vor dem Schloss gestanden haben, wo der Kaiser in den frühen Abendstunden die allgemeine Mobilmachung anordnete. Wahrscheinlich war Hübner ein Patriot, wie die meisten Deutschen damals. Und wahrscheinlich hatte er keine Vorstellung davon, wie schwer die folgenden Jahre werden würden.

 

Noch wenige Monate vorher hatte der V.D.B. eine Reise nach Sankt Petersburg organisiert, wo einige deutsche Blumenladenbesitzer, unter ihnen auch Max Hübner, gute Geschäfte machten. Und noch einmal kamen die Verbandsmitglieder in diesem Jahr zusammen, um am 22. Juni das zehnjährige Bestehen ihrer Organisation zu feiern. Aber dann waren die Geschäftsfreunde von gestern von einem Tag auf den anderen Unternehmer in einem feindlichen Land, und in vielen Kreisen galt es als höchst unpatriotisch, solche Geschäftsbeziehungen aufrecht zu erhalten. Beinahe jeder gute Untertan versuchte, seine deutsche Gesinnung zu unterstreichen. Selbst Intellektuelle wie der Schriftsteller Gerhart Hauptmann, der Maler Max Liebermann oder Wissenschaftler wie Max Planck verteidigten in einem Manifest energisch den deutschen Angriffskrieg: „Weder das Volk hat ihn gewollt, noch die Regierung, noch der Kaiser. Von deutscher Seite ist das Äußerste geschehen, ihn abzuwenden. (...) Erst als eine schon lange an den Grenzen lauernde Übermacht von drei Seiten über unser Volk herfiel, hat es sich erhoben wie ein Mann.“ Da konnten die Unternehmer, darunter auch die Blumenhändler, nicht nachstehen. Sie waren stolz, als es in der Zeitung hieß: „Als das Deutsche Reich am 3. August 1914 den Krieg erklärt, da schmückten Blumen feldgraue Soldatenhelme.“

 

Der Jubel verhallte schnell. Die Warenbeschaffung der Blumenhändler geriet bald ins Stocken, und immer mehr Geschäftsinhaber und Blumenbinder wurden nach Frankreich oder in den Osten an die Front abberufen. Die Schlachten waren enorm verlustreich. An der Marne starben 550000, vor Verdun 700000, bei Ypern fast 250000 Soldaten. Diese oft namenlosen Opfer ehrten bald zahlreiche blumen- und kranzgeschmückte Kriegerdenkmäler mit ihren heroischen Inschriften: „Aus dieser Gemeinde zogen in Kampf und Tod“ stand darauf oder „Dem Gedächtnis seiner Helden“.

 

Ein Gärtner und Blumengeschäftsbesitzer malte die Zukunft Deutschlands in der Bindekunst, dem führenden Fachblatt des Gewerbes, in dunklen Farben: „Wir werden nach dem Krieg, wenn unsere Ausfuhrindustrie wieder erwacht und der deutsche Kaufmann die Fesseln abgestreift hat, nicht genügend werktätige Hände haben. Uns werden alle fleißigen Männerhände jener fehlen, die auf ferner Wallstatt geblieben.“ Aber er hatte eine Lösung parat, die bald zur bitteren Wahrheit werden würde: „Die fehlenden Fäuste müssen möglichst unzarte Frauenhände ersetzen.“

 

Keines der Länder hatte Vorbereitungen für einen langen Krieg getroffen. Als die von Frankreich, England und Russland vereinbarte Seeblockade die Lebensmittelversorgung in Deutschland drastisch verschlechterte, rationierte die deutsche Regierung die Nahrungsmittel. Ihren Höhepunkt erreichte die Versorgungskrise im Winter 1916/17: Die Kartoffelernte hatte nur bei 50 Prozent des durchschnittlichen Ertrags gelegen. Als Ersatz für das Grundnahrungsmittel dienten eigentlich als Viehfutter gedachte Kohl- und Steckrüben. Zwischen 1914 und 1918 starben über 750000 Zivilisten an Hunger und Unterernährung.

 

In diesen Zeiten war an den Verkauf von Blumen kaum noch zu denken. Um Devisen zu sparen, war ihre Einfuhr schon lange verboten. Im Katastrophenjahr 1917 schlossen zahlreiche der mittlerweile 550 Blumengeschäfte in Berlin, weil es kaum noch Ware gab, die Fachkräfte in die Schützengräben abkommandiert worden waren und die Kunden ihr Geld nicht mehr für Blumen ausgeben wollten oder konnten. Eine Blumenhändlerin schrieb an den langjährigen Herausgeber der Fachzeitschrift Die Bindekunst, J. Olbertz: „Als Hilfe habe ich nur noch meine alten Eltern und eine 17 jährige Schwester. Sonst ist alles eingezogen. Kurz vor Weihnachten traf uns die traurige Nachricht, dass auch mein jüngster Bruder, der uns sonst in der Gärtnerei half, vor Verdun schwer verwundet wurde. Ein anderer Bruder ist seinen schweren Verletzungen erlegen. Auch dieser Bruder war uns sonst eine tüchtige Stütze. Mein Mann hat seit Juli letzten Jahres keinen Urlaub gehabt. So ruhen alle Sorgen und Lasten auf meinen Schultern.“

Erst als die Waffen schwiegen, kam neue Hoffnung auf.

 

 

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