Diesen Artikel schrieb ich vor vielen Jahren für das Stadtmagazin meiner Heimatstadt Bremen. Ich habe ihn in die Sammlung aufgenommen, weil er ein Abenteuer beschreibt, von dem ich bis heute Bilder abrufen kann.
DURCH DIE WÜSTE
Von Westafrika ans Mittelmeer
Eine Limonade. Nach vierhundert Kilometern Fahrt die erste Limo und die erste Kneipe. Wir sitzen unter einem Strohdach. Die Sonne wütet. Eine Plastikschale mit Eis lächelt mich an. Ich kämpfe mit mir: Badewannenwarme Limo oder köstlich kühles Eis. Ich kippe mir die Plastikschale mit Eiswasser über den Kopf und schleudere die Eisstücke in den Sand. Dieses Wasser ist bestimmt nicht abgekocht. Und einmal Durchfall war genug. Wir reden beide nicht. Rauchen. Trinken unser Zuckerwasser. Die Luft flimmert. In einer schattigen Ecke döst ein Hund. Die Fliegen sirren. Und der Schweiß läuft uns von den Schläfen.
Niemand läuft über die staubige Straße. Wir sind die letzten Menschen auf der Welt. Die Aura von Langeweile erschlägt uns fast. Rote Lehmhäuser, langsam zerbröckelnd, ockerfarbener Sand, Hitze. Kein Baum, keine Vögel, eine Stadt, nur gebaut des Öls wegen, das es hier irgendwo geben soll. Arlit im Niger, die letzte Stadt vor der Sahara, wenn man wie wir aus dem Süden kommt. Über 2500 Kilometer bis nach Algier, zwischen uns und dieser Stadt fast nichts als Sand und Steine. Die riesenhaften Dimensionen der Wüste ängstigen sie mich zum ersten Mal. Ein Gebiet, so groß wie ganz Europa. Von Norwegen bis nach Istanbul, von Warschau bis nach Lissabon. Ich spotte: „Endlich einmal ein Sandstrand, an dem man in Ruhe sein Badelaken ausbreiten kann.“ Die Wüste sagt nichts zu meinem Witz. Sie wartet.
Und das ist meine erste große Erfahrung: Die Wüste ist ein Freund oder ein Gegner, aber nie ist sie einfach nur „Gegend“. Sie gewinnt Gestalt, ist eine Art „Übermensch“ oder, noch dramatischer, ein Gott. Das ist keine Mystik. Das ist die Erfahrung der Naturgewalt. In Europa ist die Natur ein zahmes Kätzchen. Der Mensch hat sie in Grenzen verwiesen. Wenn es kalt wird, drehen wir die Heizung an, wenn es regnet, bleiben wir zuhause, wenn Schnee fällt, kommt das Räumkommando, wenn der Fluss steigt, beschützt uns (meistens) der Deich. Wir haben sie – zumindest weitgehend – im Griff. Die Sahara hat niemand im Griff. Bislang ist es nicht einmal gelungen, sie durch eine Straße zu bezwingen. Die Algerier haben es versucht, aber der Asphalt hielt nur fünf Jahre. Jetzt ist er verweht, aufgeplatzt, zerrissen, zu weiten Teilen eben zum Befahren völlig untauglich. Mindestens 1.500 km muss man durch den Sand. Und wir stehen am Anfang dieser Fahrt.
Auch wir haben die Sahara unterschätzt. Wir haben sie unterschätzt, weil wir zu zweit mit einem Motorrad unterwegs sind. Und zu zweit auf einem Motorrad, dass ist nicht zu machen. Also warten wir in Arlit auf einen Lastwagen, der mich mitnehmen kann. Aber es kommt keiner. Drei Tage warten wir. Nichts geschieht. Wir sitzen in der Kneipe am Fenster. Es gibt kalte Coca-Cola. Wir sitzen, warten, lesen, spielen Schach. Warten. Spielen Schach. Trinken Cola. Sitzen von früh morgens bis spät abends. Immerzu läuft ohrenbetäubend laut der Kassettenrecorder. Immer Funk-Musik, immer Stücke, die in Europa vor etwa einem Jahr populär waren. Und wir trinken und spielen Schach und warten. Kein Laster kommt. Vor uns der große Sand. Kein Weg zurück.
Wir fahren los, hoffen an der algerischen Grenze auf mehr Glück bei der Suche nach dem Pisteneinstieg. Das ist nicht ganz einfach: Die Wüste ist flach wie ein Teller und irgendwo in nördlicher Richtung liegt Algier. Der Weg dahin ist markiert mit Öltonnen. Zuerst steht auf jedem Kilometer ein Fass, später nur alle fünf Kilometer. Wir orientieren uns an den Autospuren. Sie laufen kreuz und quer, aber wir haben Glück und treffen die richtige. Andere haben weniger Erfolg. Ein Busfahrer, den wir treffen, hatte auf die falschen Zeichen gesetzt. Mit dem Kompass suchte er den Weg, bis er irgendwann wieder auf seine eigene Reifenspur traf. Etwas nervös sei er schon gewesen, sagt er. Andere finden den Weg nicht. Sie trinken ihre Vorräte leer, sie trinken das Kühlwasser, dann ihren eigenen Urin. Nach zwei Tagen sind sie verdurstet. Das geht sehr schnell hier.
Die Orientierung geht leicht verloren in der Wüste. Einmal übernachten wir mitten im Nichts. Es ist sehr diesig. Ein Sandsturm kommt auf. In allen Richtungen nur feiner Sand, eine völlig flache Ebene. Ich will nach einer Tonne Ausschau halten und laufe einige hundert Meter. Als ich mich umdrehe, ist das Motorrad im Dunst verschwunden. Ich weiß nicht mehr, woher ich gekommen bin. Und der Wind verweht die Fußspuren. Ich bleibe ratlos stehen. Rufe in den aufwirbelnden Staub. Und höre meinen Partner hupen. Diese Töne weisen mir den Weg zurück.
In der Nacht ist er dann da, der erste Sandsturm. Wir vergraben uns in unseren Schlafsäcken, schweigen und grübeln nach über unser kleines Abenteuer und ob es nicht doch ein wenig groß ist. Die ganze Nacht schütze ich meinen Kopf vor dem sandigen Wind, ich bin sehr klein und ein wenig mutlos. Am Morgen hellt es auf, der Himmel hat die Farbe von Schwefel. Wir haben beide große Schwierigkeiten mit unseren Lippen, die dauernd aufplatzen. Wir schmieren sie mit Fett ein, was ein wenig hilft. Natürlich setzt sich Sand auf der Schicht fest und so knirschen von nun an unsere Zähne.
Es ist frühmorgens, vielleicht sechs Uhr. Zeit aufzubrechen. Der Wind ist angenehm kühl, die Sonne hat sich noch nicht gezeigt. Wenn sie erst über dem Horizont aufscheint, spürt man schnell, zu was sie fähig ist. Es hat den Eindruck, als sei sie einige Millionen Kilometer näher an uns heran gerückt. Auf dem Motorrad überlegte ich oft, wie diese Sonne hier zu beschreiben sei. Es ist, als ob sie all ihre Kraft auf dieses Sandmeer konzentriert und die Wärme aus der Sahara zu den anderen Kontinenten hinüber strahlt. Die Luft heizt sich auf wie in einem Heißluftgebläse. Ich sehe mich einem riesigen Fön entgegenfahren. Der Sand ist so heiß, dass es sich in Lederschuhen anfühlt, als gehe man an einem karibischen Strand barfuß durch den Mittagssonnensand. Die Steine sind durchglüht. Man tut gut daran, in der Frühe zu fahren. Ab elf Uhr ist es ratsam, ein schattiges Plätzchen zu suchen und erst am Nachmittag weiter zu fahren.
Irgendwann erreichen wir die Grenze. Assamaka im Niger, zwei Containerhäuser, ein Baum, eine Quelle, dessen Wasser faulig nach Schwefel schmeckt. War Arlit der traurigste Fleck der Erde, dann nur, weil wir Assamaka noch nicht kannten. Hier sitzen etwa zehn Zöllner. Sie öffnen die Grenze um acht Uhr in der Frühe, schließen sie wieder um elf. Nachmittags zwischen 16 und 18 Uhr nehmen sie einen nochmals zur Kenntnis. Dazwischen ist Siesta. Nichts geht mehr. Drei Autos stehen da. Sie werden restlos auseinandergenommen. Haufen von Camping-Möbeln, Koffern, Bekleidungsstücken, Büchern, Nahrungsmitteln und Werkzeug. Alles schauen sich die Zöllner an. Wirklich alles. Und nehmen dann mit, was sie gebrauchen können. Der eine lässt sich eine Uhr „schenken“, der andere eine Liege. Man gibt dann seinen Pass ab. Wer morgens kommt, erhält ihn nachmittags wieder. Wer erst gegen Nachmittag ankommt, muss bis zum nächsten Morgen warten. Vorsicht ist geboten, äußerste Freundlichkeit und Respekt. Überhaupt nur zur Notiz genommen zu werden, ist schon ein Beweis der Gnade. Geduld ist also nötig. Ich lege mich unter den Baum und schlafe. Die Bürokratie in der Wüste, das ist eine Naturgewalt wie die Wüste selber. Was will man machen? Sich beschweren? Lächerlich. Das nächste Konsulat ist 2.000 Kilometer entfernt und das ist etwa so weit wie bis zum Mond.
An der algerischen Grenze – Guezzam heißt das Kaff – stehen einige Deutsche schon seit drei Tagen. Einer der Männer hatte seinen Pass nach stundenlangem Warten respektlos auf den Schreibtisch des Beamten geworfen. So gab es eben keinen Ausreisestempel. Und ohne Ausreisestempel in Algerien keinen Einreisestempel im Niger. Nach 72 Stunden bekamen sie ihn doch. Wir konnten schon nach kaum 18 Stunden weiterfahren. Da hatten die Zöllner immerhin zwei Wagen abgefertigt.
Von hier ab reisen wir zusammen mit einem Hanomag-Bus. Sandsturm, Bruthitze und Schikanen an den Grenzen sind vergessen. Klare Sicht auf Gebirge und Gesteinsformationen. Sie sind glatt, vom Sand abgeschliffen, zersprungen in der Hitze, verformt wie in einem gigantischen Backofen. Da liegen Hunderte von Steinen, alle ebenmäßig rund, als habe eine Familie von Riesen sie als Murmeln benutzt. Dann wachsen Kegel aus dem Sand, später bizarre Schieferplatten, ineinander geschoben von unbekannten Kräften. Den ganzen Tag sitze ich am Fenster und kann mich nicht satt sehen. Steine, ebenmäßig grau, dann wieder kräftig rot. Der Sand weißlich, dann gelblich, dann wieder ockerfarben. Ein unendlicher Himmel, tiefblau, später ein dunkler Ausblick in die Unendlichkeit mit Myriaden von Sternen, von denen einige wohl schon erloschen sind, während ihr Licht noch immer auf der Reise ist. Am späten Abend klettere ich auf einen Felsen. Um mich nur Gestein und Sand und sirrende Stille und wir mitten in dieser gewaltigen Landschaft: Vier winzige Menschen, ein Bus und ein Motorrad. Jetzt ist die Wüste uns ebenso wohlgesonnen, wie sie am Anfang feindselig war. Ich sitze lange, rauche, schaue über Sand und Steine.
Von der Grenze zur ersten algerischen Stadt, Tammanrasset, sind es etwa 400 Kilometer. Wir benötigen anderthalb Tage. Die Temperatur ist weit angenehmer als zu Beginn der Fahrt. Sie liegt in der Regel bei etwa 40 Grad im Schatten. Nachts sinken die Temperaturen kaum unter 25 Grad. Wir gewöhnen uns im Laufe der Tage so an dieses Klima, dass wir nachts, wenn das Thermometer unter die 30 Grad-Marke fällt, in unsere Schlafsäcke krabbeln. Aber obwohl wir besser zurecht kommen, zahlen wir immer noch Lehrgeld. Wir haben Plastikkanister gekauft, besitzen zusätzlich einen Plastikschlauch für zehn Liter. Das Wasser heizt sich auf, ist eher heiß als lauwarm, schmeckt köstlich in den Geschmacksrichtungen Gummi und Plastik. Wir trinken es, natürlich, wir trinken es sogar gern, denn echtem Durst sind Feinheiten fremd. Und dann lernen wir die Ziegenhautschläuche der Wüstenfahrer kennen. Diese Häute werden benetzt und am Fahrzeug befestigt, sodass der Fahrtwind das Wasser kühlt. Das hätten wir auch haben können. Und noch etwas. Jeder von uns trinkt sechs, sieben, acht Liter pro Tag. Es ist scheinbar nicht genug, denn ich gehe tagelang nicht pinkeln. Die Feuchtigkeit verdunstet sofort wieder. Zuhause werde ich mich geraume Zeit mit Nierenschmerzen plagen.
Dann sind wir im Hoggar-Gebirge, dieser Steinwüste in der Sahara. Dreitausend Meter hohe Gipfel reihen sich aneinander, roter, kahler Stein so weit das Auge sehen kann, ein Labyrinth aus Felsen, Schluchten, Höhlen. Mittendrin Tammanrasset. Das ist der Endpunkt vieler Wüstenreisen. Wer von hier aus weiter fährt, will mindestens bis nach Westafrika, nach Ghana, zur Elfenbeinküste, nach Benin oder Togo. Denn zwischen der Sahara und diesen Ländern am Meer liegen der Niger, Mali und der Sudan, furchtbar arme Länder, die für fast alle Wüstenfahrer nur Durchgangsstationen sind.
Viele von ihnen sind Autoverkäufer, die man dauernd in der Wüste trifft. Ihr Geschäft geht etwa so: Man kaufe einen Peugeot, am besten einen Kombi, stopfe ihn voll mit Ersatzteilen und fahre über Tunis (billige Fähre) in die Wüste. Nun versucht man durchzukommen bis Westafrika. Dort verscherbelt man die Kiste. Das Unternehmen zehrt an den Nerven. Die Fahrer reden ununterbrochen über günstige Verkaufsmöglichkeiten, kleine Nebengeschäfte, mögliche Gewinnspannen. Die Wüste ist ein Hindernis auf dem Weg zum Geld. Diese Leute sind außerdem so etwas wie ein Wüstentelefon. Schon im Niger hörten wir von einem Mann, der in El Golea, immerhin etwa 2 500 Kilometer entfernt, wegen einem Schaden mit seinem Motorrad festsaß. In Tammanrasset erfuhren wir, er habe Ersatzteile erhalten - nur leider die falschen. Irgendwann erzählte man uns, er sei nach Algier gefahren, um die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Als wir in El Golea ankamen, prusselte er noch immer herum.
Die Strecke wird dann schwierig. Es geht durch die Arak-Schlucht. Stundenlang geht es über die berüchtigten Pisten, die alle Wüstenfahrer hassen. Man stelle sich ein Wellblechdach vor. Genauso sieht die Strecke aus, auf der man quer zu den Rillen fährt. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, sie zu bewältigen: Entweder man fährt sehr langsam, nimmt jede Rille mit, oder aber rast so schnell, dass man kaum noch Bodenberührung hat. Spaß macht keine von beiden. Die eine kostet Nerven, die andere die Stoßdämpfer.
Wir fahren sehr langsam, erreichen endlich In Salah, 700 Kilometer hinter Tammanrasset. Das soll der heißeste Punkt der Erde sein. 55 Grad im Schatten sind keine Seltenheit. Wir schlafen in einem Hotel, essen gebratenes Huhn mit Bohnen und einen eiskalt servierten Beaujolais Primeur. Jetzt beginnt der schönste Teil der Reise. Noch etwa 1300 Kilometer bis Algier und es gibt sogar eine asphaltierte Straße.
Das ist die Bilderbuchwüste. Monumentale Dünen steigen auf, ockerfarben, voller weicher Linien, und der ewige Wind schraffiert immer neue Muster in sie hinein. Diese Dünen wachsen, wandern, sie scheinen zu leben, sind voller Ruhe und Gelassenheit. Die Wüste ist jetzt freundlich. Sie zeigt sich von ihrer allerbesten Seite, präsentiert uns El Golea, die grüne Oase voller Palmen und weißer Häuser. Dann führt sie uns nach Ghardaia, das in eine Felsenlandschaft gebaut ist, sich in den Talkessel schmiegt. Blaugestrichene Häuser in winzigen Gässchen, die das Licht ausschließen. Und wieder Dünen, und jetzt ist die Straße phantastisch und nichts kann mehr schief gehen, und wir genießen die Wärme und die karge Schönheit um uns.
Dem Meer vorgeschoben liegt noch ein Gebirge. Plötzlich sind wir in den Alpen. So viele Bäume, Bäche, Pflanzen, Tiere. Es ist fast unwirklich, nach drei Wochen Sand und Steinen. So viele Autos. So viele Menschen. Ich bin erschöpft von dem Übermaß an Eindrücken. Ich merke, wie gut mir die Einfachheit und Überschaubarkeit der Wüste getan hat: Sie reduziert den Menschen auf unmittelbare Gefühle und Bedürfnisse. Es ist Abend, man hat etwas gekocht, um einen ist nur eine summende Stille. Ein Schluck kaltes Wasser, eine Nacht-Zigarette, dann der Blick in den Sternenhimmel. Eine Einsamkeit, die einen beschützt.
Dann sind wir am Meer, einige Tage später in Frankreich. Das Land liegt in grauer Herbstmelancholie. Trauriges, saftiges, grünes Land voller Dunst und Regen. Sanfte Hügel, Kühe, abgeerntete Felder, stille Dörfer, in die Nässe geduckt. Es ist zu kalt hier.